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Ich bin 1971 in Uşak in der Türkei auf die Welt gekommen.

Als ich anderthalb Jahre alt war, machte sich meine Mutter auf den Weg nach Deutschland. Mein damals vierjähriger Bruder und ich blieben bei unserem Vater zurück. Zwei Jahre später folgte mein Vater meiner Mutter nach Deutschland. Ich lebte fortan bei meiner Großmutter väterlicherseits, wohingegen mein Bruder zu unserer Oma mütterlicherseits kam.

Meine Eltern in Deutschland ließen sich in Tübingen nieder, wo beide in der Krankenpflege arbeiteten. Erst einige Jahre später, 1980, holten sie uns nach. Die politischen Unruhen in der Türkei versetzten meine Eltern in Sorge.

Ich wuchs in Tübingen auf. Zwischendurch lebte ich auch immer wieder mal in der Türkei. Schließlich machte ich dort Abitur. Während meines Studiums in Deutschland (Romanistik, Pädagogik und Germanistik) kam meine erste Tochter zur Welt. Mit ihrer Geburt drängten sich verleugnete und unterdrückte Bedürfnisse aus meiner eigenen Kindheit an die Oberfläche. Ich merkte, wie mich die Wunden, die meine Erfahrungen hinterlassen hatten, in meiner Beziehungsfähigkeit und auf anderen Ebenen prägten.

Ich setzte mich damit auseinander, als Kind von den Eltern verlassen und zurückgelassen worden zu sein, und begann, diese Erfahrung zu verarbeiten. Auch aus Gesprächen mit Freundinnen und Freunden wusste ich, dass ihnen ähnliches widerfahren war. So machte ich mich auf die Suche nach anderen türkischen Migrant*innen, die in ihrer Kindheit von ihren Eltern getrennt waren. Jahrelang sprach ich von mir als Angehörige der zweiten Generation türkischer Migrant*innen. Bis ein deutscher Freund zu mir sagte: „Du bist doch gar nicht von der zweiten Generation. Du bist nicht hier geboren.“ Das verschlug mir zuerst die Sprache. Was war ich also? Ich war nicht die erste und auch nicht die zweite Generation. Ich war dazwischen. 2011 entstand dann die Videoinstallation „Generation Einskommafünf“. Meine Performance folgte einige Jahre später, als Zeichen meiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe.

Nach meinem Studium strebte ich in Richtung Film. Auch wenn ich dieser Branche später den Rücken kehrte, weil sie zu kinderunfreundlich ist, inspirierte sie mich doch zu der Idee, meine Erfahrung künstlerisch umzusetzen. Dokumentarfilm war die erste, naheliegende Möglichkeit. In Gesprächen mit anderen Filmemacher*innen merkte ich immer wieder, dass ich dieses Thema weder in ein Fernsehformat pressen, noch aus ihm etwas „Spannendes“ für die Zuschauer*innen produzieren wollte.
Aus meinem Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit im Umgang mit dem Thema und der respektvollen Aufarbeitung, entschied ich mich zu der Videoinstallation, worin meine Interviewpartner*innen erzählen und mich in ihre Welt einweihen.

Meine inneren Unruhen nach den Gesprächen mit meinen Interviewpartner*innen führten mich schließlich zu der Gestalttherapie. Immer wieder hatte ich Bauchschmerzen und Schlafstörungen nach den Begegnungen. Um in meinen Gesprächen eine empathische und doch professionelle Haltung bewahren zu können, fing ich im Jahre 2010 eine Ausbildung zur Gestalttherapeutin an. Zur Zeit arbeite ich als Kunstschaffende und als Gestalttherapeutin, wobei ich aufgrund meines 10 Monate alten Sohnes eher pausiere. Zusätzlich bin ich Mutter von drei wunderbaren Kindern, die auch meine Zeit und Aufmerksamkeit brauchen. Denn ich möchte ihre Entwicklung nicht verpassen. Ich merke, dass mein Hintergrund diesbezüglich eine tragende Rolle spielt.


Olcay Acet